Jürgen Ebert hat bereits in seiner Münchener Akademiezeit durch Entfernen von Körperpartien Torsen aus vollkommenen Skulpturen geschaffen. Für ihn war es in dieser Phase wichtig, den Torso aus der ursprünglich modellierten menschlichen Darstellung zu schaffen, so wie es die geschichtlichen Skulpturenfragmente aus verschiedenen Jahrhunderten wiederspiegeln. Mit dem Kontrabassspieler und dem Dirigenten begann die Phase, der bewussten Gestaltung von menschlichen Andeutungen mit vordergründigen architektonischen Elementen zu Gunsten der Gesamtform zu entwickeln.
„Vis à Vis“
Auf diesen Erfahrungen aufbauend modellierte Jürgen Ebert das freistehende Vollrelief „Vis à Vis“. Figuren kommunizieren aus den Fensteröffnungen der Fassade miteinander. Jürgen Ebert reduziert die Skulpturen auf das für seine Intention Wesentliche. Die fragmentarische Darstellung zeigt menschliche Oberkörper, die auf der Rückseite geöffnet und wie die Fassade nur eine räumliche Andeutung ergeben. Dem Betrachter fällt dies zunächst nicht auf, sondern erst mit dem Erschließen der einzelnen Skulpturengruppen, die unterschiedlich miteinander in Verbindung stehen und (somit) kommunizieren. Bei genauerem Hinsehen erfasst der Betrachter durch die Fensteröffnungen eine dritte Dimension. Was vorne offensichtlich in der Gegenständlichkeit dargestellt ist, findet auf der Rückseite in einem „Kommunikationsgerüst“ seine Spiegelung in der Abstraktion. Auch hier überlässt der Künstler nichts dem Zufall, sondern spielt virtuos mit seinen künstlerischen Möglichkeiten, um sie zu neuen Grenzerfahrungen zu treiben.
„Lebenskreis“
Aufbauend auf den Erfahrungen des Reliefs „Vis à Vis“ modellierte Jürgen Ebert 1989 in einer Kleinplastik seine Gedanken für eine begehbare Skulptur, den „Lebenskreis“ (siehe Seite 168–169). 1992 reichte er seine in Bronze gegossene Kleinplastik zu einem geladenen Wettbewerb ein. Ein Jahr später wurde sie in 2,80 Meter Höhe und 3,48 Meter Durchmesser ausgeführt. Die Weiterentwicklung und Umsetzung der begehbaren Skulptur zeugt wiederum von einer unerschöpflichen Quelle künstlerischer Einfälle, für das souveräne Spiel der Fantasie und eine traumwandlerische Sicherheit in der dreidimensionalen Gestaltung.
Die Skulptur basiert räumlich auf einem „Kreis-Haus“, dessen Fassade verschiedene enge und weite, sowie hohe und niedrige Öffnungen aufweist. Figuren, fragmentartig modelliert, stellen menschliche Charaktere dar, die unseren „Lebenskreis“ begegnen und/oder begleiten. Der Mensch betrachtet und erkennt die Dinge um sich herum und sieht sich als Mitte seiner Umgebung und Umwelt.
Jeder Mensch schafft sich auf diese Weise seinen eigenen Mikrokosmos, der Teil eines Makrokosmos ist. Zunächst ist der Mensch „Nabel der Welt“, seiner eigenen Welt eben, bis er die Welten anderer Menschen, Völker und Kulturen entdeckt. So wächst der Mensch über seine eigenen Grenzen hinaus in konzentrischen Kreisen, die man als die verschiedenen Welten bezeichnen kann, denen er angehört. Er muss ständig die Abkapselung in sich selbst überwinden und darf nicht um sich kreisen.
Der „Lebenskreis“ bietet dem Betrachter mehrere Möglichkeiten der Auseinandersetzung: Schaue ich mir die Skulptur nur von außen an, gehe herum und bleibe bestenfalls nur Betrachter oder lasse ich mich auf das Kunstwerk ein und werde Teil davon?
Erst bei Betreten des Kunstwerks wird der Betrachter den eigentlichen Charakter, das zweite Gesicht der fragmentartigen Skulpturen sehen und erleben können. Der Betrachter – oder besser Besucher – hat viele Alternativen, den Lebenskreis zu betreten, zu durchschreiten, zu erleben: Welche der oben genannten Öffnungen soll ich wählen? Gehe ich zielbewusst, aufrecht und uneingeschränkt, gehe ich gebückt, suchend oder bewege ich mich im Kreise?
Die zentrale Symbolik des „Lebenskreis“ zeigt sich in Form eines Kreises als die einfachste und zugleich vollkommenste Figur – eine zu sich selbst zurückkehrende Linie, deren Punkte alle gleich weit von der Mitte entfernt sind. Ohne Anfang und Ende wird der Kreis zum Symbol der Ewigkeit. In der Antike gilt diese Symbolik nicht nur in ihrer Beziehung zur Ewigkeit der Gottheit, sondern auch als Sinnbild der sich fortwährend erneuernden Schöpfung. Der vollkommenste Körper ist der Kreis in drei Dimensionen, also als Kugel. Sie symbolisiert den Schöpfungsakt, den Kosmos, die Erde.
Kreis und Kugel sind Sinnbilder einer unauslotbar tiefen und umfassenden Einheit, bleiben bestimmend für die Vorstellung von Raum und Zeit, Welt- und Menschenbild. Beide entdecken wir in den Kirchen der Frühzeit als Grundmaß. Als umfassendes Ganzes schließen sie Gott, Welt und Menschen zur Einheit zusammen. Diese Symbolik wird deutlich in der Darstellung des Segmentes der Erdkugel, die als Deckel den Prolog aus dem 1. Kapitel des Johannes Evangelium umschließt und den Mittelpunkt der Skulptur verdeutlicht. Alle weiteren Zitate nehmen nochmals durch das Wort den Bezug zur Schöpfungsgeschichte, zum Lebenskreis auf.
Auf der Architekturfassade im Kreisinneren befinden sich folgende Zitate:
1. Man kann das Leben rückwärts verstehen, aber leben muss man es vorwärts. (Søren Kierkegaard)
2. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, so wenig wie Sonne und Mond zueinanderkommen oder Meer und Land. Unser Ziel ist, einander zu erkennen und einer im anderen das zu sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung. (Hermann Hesse)
3. Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not, frei unser Leben, stets zum Spiel bereit, doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit, nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod. (Hermann Hesse)
4. Wir schauen nicht aus nach dem Sichtbaren, sondern nach dem Unsichtbaren. Denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig. (2. Korinther 4, 18)
In der Mitte der Skulptur liegt auf einem ca. 25 cm hohen Sockel die runde Schriftplatte mit folgendem Text: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Johannes-Evangelium)